Ich sitze an meinem Schreibtisch, bearbeite im HomeOffice eine Aufgabe nach der anderen, draußen regnet es und ich fühle mich eingesperrt. Mein Gedanken schweifen zurück zum letzten Sommer. Island. Dieser eine Abend auf der Halbinsel Snæfellsnes. Unser Hotel lag nur wenige Meter vom Strand entfernt und nach dem Abendessen gings los. Es ist fast neun Uhr. Die Sonne wird erst in ein paar Stunden untergehen. Runter zum Strand, der an dieser Stelle - für Island ungewöhnlich - nicht schwarz, sondern gelb/rot ist. Das Meer mit seiner sanften und doch gewaltigen Brandung fasziniert mich immer. Ich schlenderte den Strand entlang und nehme den feinen, unverkennbaren Geruch des Meeres nach Salz und Algen in mich auf. Immer wieder bleibe ich stehen, lasse die Atmosphäre in mich eindringen. Knie nieder, um den feinen Sand durch meine Finger gleiten zu lassen. Oder um über die glatte Oberfläche eines schwarzen Steines zu streichen. Man kann noch erkenne, dass er einmal ein zackiger Lavabrocken war. Doch die Brandung - deren Tosen ich auch jetzt höre - hat ihn abgeschliffen. Jetzt greift er sich samtweich und von der Abendsonne gewärmt an.
Was für ein Bild: Hinter mir das sichere Hotel, einige Leute in der Entfernung am Strand. Sie werden immer kleiner, je weiter ich wandere. Ich bin ganz alleine hier draußen und genieße. Auf der einen Seite das schier unendliche Meer mit seinen Geheimnissen. Ich weiß um die weiter draußen schwimmenden Wale und schicke ihnen einen Gruß. Rechts von mir der Sandstrand, dann immer mehr Grün, viel Strandhafer. Dort brüten die tausenden Küstenseeschwalben, deren Gezetere die Stille durchbricht. Wie elegant sie durch die Lüfte gleiten. Könnte ich doch mitfliegen! Und hie und da tauscht als deutlicher Kontrast im Grün der weiße Kopf eines Schafes auf. Gemütlich kaut es an seinem Gras und lässt sich durch mich nicht stören. Dahinter dehen sich die Hügelketten der Halbinsel Snæfellsnes aus. Über mir ein paar kleine Wolken am herrlich blauen Abendhimmel, von der Sonne in ein weiches Streiflicht getaucht. Und vor mir: ER! Der Berg der Berge. Der vor Energie pulsierende, mit einer kleinen Gletscherkappe bedeckte und so unendlich schöne Snæfellsjökull. Egal ob ich ihn von der Ferne sehe wie jetzt, an seinen Ausläufern wandere oder auf seinem Gipfel stehe. Immer fasziniert er mich gleich, zieht mich fast magisch an. Ich spüre seine Kraft und nehme, sauge sie in mich auf. Versuche all das zu speichern: den Duft des Meeres, das Tosen der Brandung, das Gekreische der Küstenseeschwalben und die Stille dazwischen. Den Sand, der bei jedem Schritt leicht knirscht und die Ruhe und Gelassenheit der weidenden Schafe. Die Sonne, den blauen Himmel und die schier unendliche Weite vor mir. Meine Augen haben Platz zu sehen und meine Gedanken Platz zu
schweifen. Und ich speichere das Bild des Snæfellsjökulls vor mir, seine typische Form, seine Schönheit und seine Energie. Und ich weiß: all das, dieses Gesamtkunstwerk, wird mir auch im kommenden Jahr durch viele schwierige Stunden helfen.
Ja, denn dieses Bild, diesen Schatz habe ich in mir und kann ihn auch jetzt, eingesperrt an meinem Schreibtisch sitzend, abrufen. Vor allem aber: ich weiß, irgendwann gehts wieder. Irgendwann, schon bald, bin ich wieder dort am Stand und bewundere "meinen" Snæfellsjökull.