Wenn Sie neue Nachbarn bekommen, so werden Sie neugierig sein. Soll man sich freuen oder ist Vorsicht oder gar Misstrauen besser? Mit 1.5.2004 haben wir neue Nachbarn bekommen. Das heißt, ganz neu sind sie nicht, aber wirkliche Nachbarn waren sie lange Zeit nicht. Was in manchen früheren Versuchen (Hanse, Habsburger-Monarchie,...) begonnen hat, soll in der EU wieder aufgenommen werden, vielleicht einer gewissen Erfüllung zugeführt werden.
Westpolen mit Breslau und Danzig
Mit dem PKW fuhr ich 2003 durch Tschechien nach Breslau (Wroclaw) in Polen, eine wunderschöne Stadt. Besonders großartig ist der Hauptplatz, völlig in sich geschlossen mit Bauten aus der Gotik und Renaissance - ohne jede Bausünde. Außerdem ist Breslau eine sehr lebendige Stadt voller Kultur und Leben. Auf einem Gasthaus sehe ich die Inschrift 'Altlemberger Küche¹ mit Spezialitäten aus dem ehemaligen Galizien (war bis 1918 bei Österreich). Warum eigentlich? Nun, das 20. Jhdt. war ein Jahrhundert der Fortschritte auf vielen Gebieten - wir wissen es. Es war aber auch eine Zeit unvorstellbarer Grausamkeiten, ganze Völker wurden vertrieben, verfolgt, ausgelöscht, Jahrhunderte alte Kulturen sind verschwunden. Breslau war eine Stadt mit deutscher Bevölkerungsmehrheit. Nach 1945 wurden die Deutschen vertrieben und die entvölkerte Stadt mit Leuten aus Lemberg und Umgebung gefüllt. Denn dort waren plötzlich die Russen (Sowjets), wo vorher Österreicher, dann Polen das Sagen hatten. Die Polen waren - ohne Verschulden - Fremde in ihrer Heimat, viele wurden umgesiedelt. Eine Reise durch Polen ist auch eine Reise in eine teils schreckliche Vergangenheit. Unsere nächste Station machen wir in Danzig, ebenfalls sehr schön, sehr sehenswert. Mit ähnlicher Geschichte wie Breslau. Danzig war eine reiche und wohlhabende Stadt. Sie war Mitglied einer Art 'EU des Mittelalters', des Städte- und Handelsbündnisses der Hanse. Danzig ruft aber auch Erinnerungen an die jüngere Geschichte wach, an den Niedergang einer anderen Diktatur, des Kommunismus. In der Danziger Leninwerft begann unter dem Anführer Lech Walesa der Aufstand gegen den Kommunismus. Es ist Sonntag und damit geht man in Polen in die Kirche - ein Kirche voller Gläubiger, in jeder Kirche und es gibt Gottesdienste im Stundentakt - vieles ist für uns unvorstellbar, ungewohnt. Wir sind unterwegs nach Osten. Polen ist ein nach wie vor stark agrarisch geprägtes Land - je nach Statistik sind 15-20% der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, der Strukturwandel geht raschest vor sich. Sah man noch vor wenigen Jahren oft Pferdefuhrwerke, ist dies heute eine ausgesprochene Seltenheit. Der Norden Polens ist sehr flach, fruchtbar, landschaftlich aber nicht allzu abwechslungsreich. Doch dann kommt man in die Masurische Seenplatte: Felder, Wälder und herrliche Seen in riesiger Zahl mit allen touristischen Möglichkeiten.
Litauen
Allmählich nähern wir uns Litauen und den Baltischen Staaten - für mich völliges Neuland. Die Dörfer in Litauen sind schöner, gepflegter als in Polen, bunte, häufig gelbe Holzhäuser erfreuen die Augen. Die Menschen sind sehr freundlich. Wir sehen Bauern bei der Arbeit, wie bei uns vor 40 Jahren. Litauen ist eng mit Polen verbunden gewesen, später natürlich mit der Sowjetunion. Noch heute sind die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland wichtig - und auch problematisch. Natürlich besuchen wir die Kurische Nehrung, ein einzigartiges Naturschutzgebiet in Europa. Wunderschöne Dörfer, Bademöglichkeiten, herrliche Dünenlandschaf-ten, die man hier nicht vermuten würde, begeistern uns. Auch die Hauptstadt Vilnius - ein nördliches Rom dank der vielen und prächtigen Kirchen - lernen wir kennen. Kaum ein christliches Bekenntnis, das hier nicht zu finden ist, das hier seinen Glauben nicht zu Stein werden ließ.
Lettland
Der Weg führt uns weiter nach Lettland - die Fahne schaut der unsrigen zum Verwechseln ähnlich. Aber das ist auch schon die einzige Gemeinsamkeit. Geschichtlich hatten wir Österreicher kaum etwas mit dieser Region zu tun. Die Hauptstadt Riga ist absolut grandios, aktiv, jugendlich - boomend. Wunderschöne Bauten aus der Gotik, Renaissance bis zum Jugendstil, der hier eine ganz besondere Blüte erreichte. Ganze Straßen in diesem schönen Baustil sind zu bewundern. Ein älterer Herr spricht uns an - auf Deutsch. Er ist einer der wenigen Juden, die überlebt haben. Er zeigt uns die einzige verbliebene Synagoge, berichtet von früheren Zeiten, von der alten 'Herrlichkeit' - im Rückblick. Auf einem der vielen schönen Plätze der Stadt wird gesungen, die Letten lieben ihre Musik, auch ihre Tracht, ihre Traditionen. Selbst der Umsturz 1989 ging als die Osingende Revolution¹ in die Geschichtsbücher ein.
Estland
Nun fehlt uns nur noch Estland - Seen und Wälder bestimmen über weite Strecken das Bild. Ansonsten macht Estland einen sehr fortgeschrittenen Eindruck - in den Städten mit modernen Bürobauten und Industriegürteln scheint alles neu. Und tatsächlich ist Estland das am meisten entwickelte Land des Baltikums; kaum eine namhafte Firma, die nicht hier eine Niederlassung hat. Viel Auslandskapital, vor allem aus dem nahen Finnland, floss hier ein. Viele Touristen kommen, vor allem ins herrliche, mittelalterliche Tallinn - kaum ein Kreuzfahrtschiff, das nicht hier vor Anker geht....
Rückweg durch Polen nach Warschau und Krakau
Unser Heimweg führt schließlich in die Hauptstadt Warschau. Auf Schritt und Tritt begegnet man geschichtlichem Boden. Immer wieder finden sich Mahnmale aus der Zeit des Nationalsozialismus, auch des Kommunismus - Erinnerungen an die Verfolgung der Juden, den Aufstand im Ghetto 1944. Wir leben in einer friedlichen Zeit - die meisten von uns kennen Krieg, Notzeiten nur vom Hörensagen. Bisweilen fragt man sich, ob wir uns unserer privilegierten geschichtlichen Stellung bewusst sind. Zuletzt besuchen wir noch Krakau. Dort sind wir wieder der österreichischen Geschichte nahe, gehörte doch Krakau und Umgebung bis in die heutige Ukraine hinein lange Zeit zu Österreich. Krakau, die alte polnische Haupt- und Krönungsstadt, ist eine wunderschöne Stadt, Weltkulturerbe - und das zu Recht. Wer Kunst und Kultur schätzt, wird sich hier wohl fühlen. Krakau aber ist auch eine Stadt der Geschichte, auch der jüngeren. Der jetzige Papst war vor seiner Wahl Erzbischof von Krakau. Ohne ihn (und Gorbatschow) hätte es den friedlichen Umsturz im Ostblock wohl nicht oder noch nicht oder nicht friedlich gegeben. Die Erweiterung der EU wird nicht ohne Probleme vor sich gehen. Aber wäre das starre Festhalten am Alten ohne Probleme? Bisweilen hilft es, vielleicht auch eine Reise zu tun, in Wirklichkeit oder in Gedanken.